Der Literaturhaus Nürnberg e.V., hat sich personell neu formiert und inhaltlich neu ausgerichtet. Zur Förderung des literarischen Lebens in der Stadt und darüber hinaus hat der rein ehrenamtlich organisierte Verein einen mit 10.000 € dotierten Preis ins Leben gerufen, der an die großartige, unbequeme, in Nürnberg geborene Schriftstellerin Gisela Elsner (1937-1992) erinnert.
Verliehen wird der Gisela-Elsner-Literarutpreis erstmals am 10. Juli 2021 um 19 Uhr im Literaturhaus Nürnberg.
Zur ersten Preisverleihung hat Gisela Elsners Freundin, die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, einen sehr persönlichen Text verfasst:
Eine Frau springt aus einem Fenster. Die Luft war ihr kein Gegner mehr, man konnte sie mit dem eigenen Körper durchschneiden, wie ein heißes Messer (das Gisela war) die Butter durchschneidet. Oder, so hat es begonnen: Alles, was sie umgab, ja, auch die Luft, war ihr Gegner. Vor lauter Gegnern sieht man die Freunde nicht mehr, die sich ohnedies schon lang nicht mehr versammelt haben. Gisela Elsner hat mich als ihre Freundin bezeichnet, worauf ich stolz bin, doch ich habe mich nicht bewährt. Nicht bewehrt war diese Frau gegen die Luft, die zu einer Art Gallerte geworden war, nicht mehr zu durchdringen, jeder Millimeter Luft nur mehr unter Einsatz des eigenen Körpers, wenn man sich in diesen zähen Brei überhaupt hineinwagt. Dann ist es, wie in Aspik zu schwimmen, denn wenn alle Gegner geworden sind, dann ist da niemand mehr, den man noch angreifen kann. Nachdem man selber schon alles, was einen umgibt, in der Hand gehabt, angesehen und verworfen hat, dann ist man selbst verworfen, so wie der Computer einen fragt, ob man einen Text behalten oder verwerfen möchte. Gisela wollte ihre Texte den Menschen vorwerfen, und sie hat geschrieben, was sie den Menschen vorzuwerfen hatte. Als sie es dann bekamen, schienen sie es nicht zu wollen. Sie haben es nie gewollt. Zartfühlig, wie sie es waren, zeigten sie sich überaus erleichtert darüber, daß man es ihnen nicht zumutete, den Vertilgungen (von Ungeziefer, das die Menschen sind, weil man sie so behandelt hat, weil man sie getötet hat, bis ihnen die mit Giftpulver vermengte Luft in den Vertilgungsräumen den Atem nahm) beizuwohnen. Diese Stelle ist ein ins leichter Zumutbare abgewandeltes Zitat aus Giselas Roman „Otto der Großaktionär“. Spurlos wie totes Ungeziefer sollen Menschen also verschwinden und sind auch verschwunden. Man kann nichts andres sagen, aber man sagt ja immer was, ununterbrochen, sodaß man im Grunde nichts mehr sagt. Spurlos wird Gisela Elsner jetzt nicht mehr verschwinden können, denn es ist ein Literaturpreis ihr gewidmet, der den Gewinner, die Gewinnerin zumindest für eine Weile nicht verschwinden lassen wird, sondern hervorhebt. Das freut mich sehr für meine verstorbene Freundin Gisela Elsner. Und für die kommenden Preisträgerinnen und Preisträger. Ich gratuliere. Sie sollen ein Leben haben und diesen schönen Preis dazu, der sie an eine Schriftstellerin erinnern soll, die nicht verschwinden darf.
Elfriede Jelinek
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Die Jury hat Natascha Wodin den 1. Gisela-Elsner-Literaturpreis zuerkannt. Geboren in Fürth als Kind von russischen Zwangsarbeitern, verbrachte Wodin ihre Kindheit unter bedrückenden Verhältnissen in Nürnberg und Forchheim. Jahre später kehrte die Autorin nach Nürnberg zurück und wohnte hier einige Zeit mit ihrem damaligen Ehemann, dem Dichter Wolfgang Hilbig, ehe sie sich in Berlin niederließ.
Nicht in erster Linie die biografischen Bezüge zur Region waren jedoch für die Entscheidung der Jury ausschlaggebend, sondern Natascha Wodins vielschichtiges, sprachlich brillantes Werk, das sie immer wieder zu den Themen Entwurzelung und Heimat, komplexen menschlichen Beziehungen und den deutschen und europäischen Zeitläuften widmet.
Auszug aus der Jurybegründung:
„Das Werk der 1945 in Fürth als Kind russischer Zwangsarbeiter geborenen Natascha Wodin steht beispielhaft für das Nachdenken über die Verwerfungen der europäischen Nachkriegsepoche. Zugleich durchleuchtet es mit großer sprachlicher Sensibilität und skrupulöser, bisweilen zärtlicher Distanz die Probleme menschlicher Beziehungen bis hinein in ihre schmerzhaften Abhängigkeiten und düsteren Abgründe. Darüber hinaus sind ihre Romane wie „Sie kam aus Mariupol“, „Irgendwo in diesem Dunkel“, „Nachtgeschwister“ oder „Die gläserne Stadt“ ein Plädoyer für einen genaueren Blick auf die Außenseiter der Gesellschaft und deren Schicksale.“
Die Laudatio auf Natascha Wodin wird der Autor und Journalist Jörg Magenau halten.
Der Gisela-Elsner-Literaturpreis des Literaturhaus Nürnberg e.V. soll alle zwei Jahre verliehen werden, normalerweise an Elsners Geburtstag, dem 2. Mai.
Weitere Infos beim Literaturhaus Nürnberg e.V.: https://literaturhaus-nuernberg.de/gisela-elsner-literaturpreis